26.01.2021
DruckenDer Herr der Ringe
Krebs ist eigentlich eine typische Alterserkrankung. Im Laufe des Lebens sammeln sich in den Zellen des Körpers Veränderungen im Erbgut an, die zunehmend schlechter repariert werden. Und irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem eine Zelle aufgrund der Mutationen anfängt, unkontrolliert zu wachsen und sich zu vermehren.
Warum auch schon Kinder an Krebs erkranken, ist eine Frage, die PD Dr. Anton Henssen seit Längerem beschäftigt. Der 35-Jährige ist Wissenschaftler am Experimental and Clinical Research Center (ECRC ), einer gemeinsamen Einrichtung der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC).
Seit 2019 leitet er auf dem Campus Berlin-Buch die Emmy-Noether-Forschungsgruppe „Genomische Instabilität bei kindlichen Tumoren“.
Interesse an zirkulärer DNA ist neu
Erst im vergangenen September erhielt Henssen für seine Forschung einen der begehrten Starting Grants des European Research Council (ERC). Für das Projekt „CancerCirculome“ stellt der ERC Henssen in den kommenden fünf Jahren rund 1,5 Millionen Euro zur Verfügung. „Die Bedeutung zirkulärer DNA bei der Entstehung von Krebs rückt immer mehr in das Zentrum des wissenschaftlichen Interesses“, sagt Henssen. Das sei, als er begonnen habe, sich für das Thema zu begeistern, noch ganz anders gewesen.
„Auch deshalb freue ich mich jetzt sehr über den Preis der Kind-Philipp-Stiftung für pädiatrisch-onkologische Forschung“, sagt Henssen, der neben seiner Arbeit als Wissenschaftler auch als Kinderarzt an der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité praktiziert. „Die Auszeichnung ist hierzulande eine der bedeutendsten auf dem Gebiet der Kinderonkologie.“
Winzige Ringe bringen Erbgut durcheinander
Leider werde die Preisverleihung aufgrund der Corona-Pandemie erst irgendwann im Laufe des Jahres stattfinden, sagt Henssen. Das Preisgeld von 10.000 Euro habe ihm die Stiftung aber bereits überwiesen. „Wenn die aktuelle Krise vorüber ist, werde ich mit meiner Arbeitsgruppe, ohne die ich den Preis niemals bekommen hätte, ganz groß feiern gehen“, sagt Henssen, der auch am Clinician Scientist Program des Berlin Institute of Health (BIH ) und der Charité teilnimmt und darüber hinaus wissenschaftliches Mitglied im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK) am Standort Berlin ist.
Mit dem Kind-Philipp-Preis wird einmal im Jahr die beste Arbeit deutschsprachiger Autor*innen zur Erforschung von Krebs bei Kindern ausgezeichnet. Prämiert hat die Stiftung dieses Mal eine Studie, die 2020 im Fachblatt „Nature Genetics“ erschienen ist. Zusammen mit Dr. Richard Koche vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York, Prof. Dr. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité, sowie 35 weiteren Forscher*innen hat Henssen in der Publikation gezeigt, dass kleine DNA-Ringe in Nervenzellen von Kindern das Erbgut so durcheinanderbringen können, dass sich ein Neuroblastom entwickelt.
Wachstum des Neuroblastoms beschleunigt
Das Team hatte für die Studie Gewebeproben von 93 Kindern mit einem Neuroblastom untersucht. Dabei stellte die Gruppe fest, dass zirkuläre DNA in den Tumorzellen deutlich häufiger und in größerer Komplexität zu finden ist als bis dahin angenommen. Zusätzlich konnten die Wissenschaftler*innen anhand ihrer Daten ableiten, wie sich bestimmte Abschnitte der Erbinformation aus einem Chromosom herauslösen, Ringe bilden und sich anschließend an anderer Stelle des Chromosoms wieder einbauen. „Da dabei die ursprüngliche Abfolge der Erbinformation durcheinandergebracht wird, können die betroffenen Zellen leicht entarten“, erklärt Henssen.
Gemeinsam mit seinem Team zeigte der Forscher zudem, dass bestimmte DNA-Ringe das Wachstum von Neuroblastomen beschleunigen. Deren Nachweis könnte es künftig erleichtern, den Krankheitsverlauf der Kinder besser einzuschätzen. Henssens nächstes Ziel ist es nun, das zirkuläre Erbgut genau zu sequenzieren und jene Faktoren zu identifizieren, die das Entstehen und die Vermehrung der Ringe überhaupt erst ermöglichen.
So hofft der Forscher und Arzt, seinen kleinen Patient*innen an der Charité in Zukunft noch besser als bisher helfen zu können. „Wenn wir Marker für eine bessere Diagnose und Prognose entwickeln“, sagt Henssen, „werden wir in der Lage sein, den krebskranken Kindern und ihren Eltern eine sehr viel individuellere und damit vermutlich auch effektivere Therapie anzubieten.“
(Gemeinsame Pressemitteilung von MDC, Charité und BIH anlässlich des Weltkrebstages am 4. Februar)